Ein Notar besucht seine Mandanten auch schon mal zu Hause, wenn es der Gesundheitszustand erfordert, der Mandant also kaum reisefähig ist.
So wurde ich eines Tages auch zu einer Unterschriftsbeglaubigung in einen anderen Ort unseres Landkreises gerufen, zu einer über 80jährigen Frau. Gleich hinter der Haustür erwartete mich fast ein anderes Zeitalter. Ich fühlte mich beim Anblick der Einrichtung an meine Kindheit und das frühere Leben auf dem Dorf erinnert, obwohl es hier ein Stadtgrundstück war. Vielleicht waren es aber mehr Erinnerungen an Filme über Lebensbedingungen gleich nach dem Krieg.
Der Hauptraum, in dem ich Platz nehmen sollte, war mehr Wertstatt und Waschküche, obwohl die Möbel wohl zu einer Küche gehörten und Stühle, Tisch und Couch wohl auch das Wohnzimmer bedeuteten. Auf dem Tisch befand sich eine schmuddelige Wachstuchdecke, die einen Tisch mit Schubkasten verbarg. Darin bewahrte die alte Dame ihre wichtigsten Dokumente auf. Angeblich stammt daher auch der Begriff „Tischkastentestament“ als Synonym für die bei den Nachlassgerichten so gefürchteten handschriftlichen Testamente. Meist sind diese auslegungsfähig, weil unklar verfasst und mache verschwinden für immer, ohne dass ihr Inhalt bekannt wird.
Der Raum war verkramt und der Fußboden war so überdeckt von unterschiedlichsten Bodenbelägen und Dreck, dass die Funktion des Raumes unklar blieb.
So platziert führte ich das Gespräch mit meiner Mandantin, um den Fakt zu klären und gleichzeitig die Geschäftsfähigkeit zu prüfen. Plötzlich war ein kurzes Klopfen, wie mit einem spitzen Gegenstand an eine Scheibe zu hören. Dann kam das Klopfen wieder, aber eben nicht von der Tür, durch die ich eingelassen wurde. Die alte Dame öffnete ein Fenster zum Garten und herein kam ein Huhn, das gestreichelt wurde und auf der Stuhllehne Platz nahm. Es sei ihr letztes Huhn und seit der Fuchs das vorletzte geholt hatte, wollte es bei Einbruch der Dunkelheit pünktlich herein.
Der Raum hatte also noch eine weitere Funktion – als Hühnerstall.
Inzwischen leben beide nicht mehr. Die Erben haben das Anwesen verkauft. Die neuen Eigentümer haben das alte Haus abgerissen und es steht dort ein neues Haus, wie es auch an vielen anderen Ecken stehen könnte – austauschbar.
Das Ganze ist nun schon mehr als 15 Jahre her. Immer wenn ich an diesem Anwesen vorbei muss, habe ich aber wieder die alte Dame und ihre Lebensumstände vor Augen.